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Gemeinsam ins Alter: „Wir sind die Alternative!“

„Im Altersheim geben wir unsere Kompetenzen an der Pforte ab“, sind Bettina und Peter Schau überzeugt. Ihre Vision: individuelles Leben in Gemeinschaft in dem von ihnen mitinitiierten, genossenschaftlichen Wohnprojekt in der Kirchditmolder Distelbreite. Christoph Harney ist der Architekt, der die Ideen der Vereins- und Genossenschaftsmitglieder planerisch begleitet und entwurflich umsetzt. www.christophharney.de

Bettina und Peter Schau – engagierte Begleiter des Projekts "Gemeinsam ins Alter"

 

Interview: Klaus Schaake

KS: Herr Schau, Sie waren beruflich oft in Pflegeeinrichtungen zu Gast. Zu welchen Einsichten hat Sie das gebracht?
PS: Wir haben gesehen, wozu es führen kann, wenn man im Alter nur noch verwaltet wird. Im Altersheim geben wir unsere meistens unsere Kompetenzen ab. Dabei wollen und können wir als Menschen unsere Fähigkeiten auch im Alter leben und einbringen. Denn genau das hält uns fit. Im Altersheim können wir das im Regelfall nicht. Es sei denn, wir bringen sehr, sehr viel Geld auf, um in besonderen Einrichtungen zu leben. Für ehemalige kleine und mittlere Angestellte ist das wiederum völlig unmöglich.
KS: Also, strukturelle Probleme, die auch mit der engagieren Arbeit von Heimleitungen und Mitarbeitern kaum zu lösen sind?
PS: Genau. Deswegen – und natürlich auch vor dem Hintergrund unseres eigenen Alterns und der Frage, wie wir leben wollen – haben wir angefangen, über Alternativen nachzudenken.
KS: Die da wären?
BS: Kurz gesagt: individuell Wohnen und gleichzeitig in Gemeinschaft sein. Im gewohnten Kiez älter werden, Nachbarschaft leben, sich im Stadtteil und darüber hinaus vernetzen, in Würde altern.
KS: Das können sicherlich alle von uns unterschreiben. Was haben Sie konkret unternommen, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen?
BS: Erst einmal haben wir uns umgeschaut, was es bereits gibt und sind dabei auf das in Großbritannien entwickelte Abbeyfield-Modell gestoßen. Aus einer solchen Abbeyfield-Gruppe entwickelte sich unser Verein „Gemeinsam ins Alter e.V.“, mit dem wir an der Realisierung unserer Idee arbeiten. Vor einem Jahr gründeten wir dann unsere Genossenschaft.

Leben sinnvoll teilen, individuell wohnen
KS: Es gibt ein Grundstück in Kirchditmold auf dem Sie ganz konkret werden wollen. Was werden Sie dort tun?
PS: Bauen! Ein barrierefreies Haus mit 13 Wohnungen zwischen ca. 30 und 80 Quadratmetern Wohnfläche und einem Gemeinschaftsraum. Wir realisieren an der Distelbreite ein Projekt für ältere Menschen, die sich vorstellen, ihr Leben sinnvoll mit anderen zu teilen und trotzdem individuell zu wohnen.
KS: Viele von Ihnen sind schon älter. Was passiert im Falle eines Pflegebedarfs, der ja kaum von der Gemeinschaft aufgefangen werden kann?
BS: Wir sind kein Altersheim und wir bieten keine Pflege an. Allerdings muss in unserem Haus niemand ausziehen, sollte er pflegebedürftig werden. In diesem Fall greifen die Bewohner individuell auf Pflegedienste zurück. Bei den täglichen Verrichtungen wollen wir uns beistehen. Wer bei uns lebt, ist Teil einer Gemeinschaft, die niemanden hängen lässt. Wir sind eine Alternative zum Pflegeheim!
KS: Wie organisiert sich die Gemeinschaft in Ihrem Projekt?
PS: Sie bildet sich um das gemeinsame Mittagessen herum, das eine Hauswirtschaftskraft frisch und altersgerecht für uns zubereitet. Das Mittagessen ist quasi die zentrale Begegnungsstätte, wo wir einander treffen. Die Teilnahme daran hat verpflichtenden Charakter haben. Alles andere entwickelt sich darum herum.

Sich auf Augenhöhe begegnen
KS: Das hört sich noch nicht allzu konkret an. Sind da nicht Konflikte vorprogrammiert?
BS: Wer nicht an Gemeinschaft interessiert ist, kann bei uns nicht einziehen, das regelt unsere Vereinssatzung. Wir suchen Menschen, die bereit sind, ihre Kompetenzen einzubringen und sich – im positiven Sinne – mit anderen auseinanderzusetzen.
Unter der Fragestellung „Was kann ich für die Gemeinschaft einbringen?“ haben wir vor zwei Jahren eine Zukunftswerkstatt gemacht. Es war unglaublich, wie viele Kompetenzen sich da zeigten, die Menschen einbringen können. Und wollen!
Vor acht Jahren sind wir mit einer Idee gestartet.Heute treffen sich zwölf Leute, die sich „beschnuppern“, als Gruppe zusammenwachsen und in Hausgemeinschaft leben wollen. Nur drei oder vier Wohnungen haben wir derzeit noch zu vergeben.
KS: In Kassel und Region gibt es Gemeinschaften, die einen politisch-gesellschaftlichen oder spirituellen Überbau haben. Wie ist das bei Ihnen?
PS: Weltanschaulich sind wir neutral. Das Spektrum reicht von engagierten Christen bis zu Atheisten. Unser Modell mit Verein und Genossenschaft ermöglicht es, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Die Leute, die im Haus wohnen, bestimmen, wie im Haus gelebt wird. Denkt man an die geringer ausfallenden Renten der nächsten Generationen, sind wir mit unserem Modell hinsichtlich Selbstständigkeit im Alter, Versorgungssicherheit und Kosten absolut zukunftsfähig.


Das Projekt „Distelbreite“
... umfasst 13 abgeschlossene barrierefreie Mietwohnungen und Gemeinschaftsräume. Alle Wohnungen sind mit Balkon, Küchenzeile und Duschbad ausgestattet und haben einen kleinen Abstellraum. Die Wohnungsgrößen variieren zwischen 30 und 80 Quadratmetern.
Den Gemeinschaftsbereich bilden ein großes Wohn- und Esszimmer, die Küche, ein kleiner Werkraum. ein Sitzungs- und Büroraum für den Verein und die Genossenschaft mit einem Gästebett und das Foyer, das auch das Zusammenkommen der Bewohner im Alltag und bei Veranstaltungen ermöglicht. Das Haus ist komplett barrierefrei und hat einen Garten.
Die Infrastruktur ist mit öffentlichem Nahverkehr (Bushaltestelle, Regiotram), Einklaufsmöglichkeiten, Ärzten, Apotheken, Physiotherapeutischer Praxis, Friseur, Bank, Carsharing-Station und Kirchengemeinde vorteilhaft.
Christoph Harney ist der Architekt, der die Ideen der Vereins- und Genossenschaftsmitglieder planerisch begleitet und entwurflich um setzt. www.christophharney.de

 

Der Verein
„Gemeinsam ins Alter Kassel e.V.“ ist eine 2006 gegründetet gemeinnützige Organisation, die das Ziel hat, der menschlichen Isolation und Unsicherheit im Alter entgegenzuwirken. Die Mitglieder verfolgen das Ziel, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung älterer Menschen zu fördern. Mit der Gründung des Wohnprojektes leistet der Verein einen Beitrag zur Erhaltung von Gesundheit und Lebensqualität im Alter und bereichert die Seniorenwohnkultur. Der Verein hat derzeit 45 Mitglieder.

 

Kontakt:
Gemeinsam ins Alter Kassel e.V.
Fohlenäckerweg 25, 34130 Kassel
Tel. 0561 – 88 60 37
gemeisam-ins-alter@web.de
www.gemeinsam-ins-alter.de


Die Genossenschaft
„Gemeinsam ins Alter Kassel eG“ ist der Bauherr des Projektes in der Distelbreite. Ihm obliegt die architektonische und finanzielle Realisierung des Projekts. Die Finanzierung stützt sich auf Eigenkapital und Bankdarlehen. Ein Genossenschaftsanteil beträgt 1000 Euro.
Die zukünftigen Mieter hinterlegen als Genossenschaftseinlage pro zu mietenden Quadratmeter Wohnfläche weitere 500 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Diese Einlage bleibt dem Mieter als Eigentum erhalten und wird bei Ausscheiden aus der Genossenschaft zurückgezahlt.
Die Genossenschaft bietet eine sichere Geldeinlage für Mieter und Unterstützer des Projektes. Sie sucht noch Sponsoren und Institutionen, die die Idee in Form von Baukostenzuschüssen, Genossenschaftsanteilen oder Bürgschaften unterstützen.
Die Genossenschaft hat derzeit 26 Mitglieder.

 

Kontakt:
Gemeinsam ins Alter Kassel eG
c/o Peter Schau
Fohlenäckerweg 25
34130 Kassel
Tel. 0561 - 88 60 37
petbettschau@yahoo.de
www.gia-kassel.de

 

 

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